Sex, Drag and Rock’n’Roll

Sven Ratzke & Gerhard Winterle - Foto © Ritter von Lehenstein

Sven Ratzke bringt „Hedwig and The Angry Inch“ auf die Bühne zurück – und findet für die Glam-Rock-Show eine neue Heimat im Berliner Renaissance-Theater

von Axel Schock

BERLIN – Hedwig ist wieder da. Mit einer meterlangen weißen Schleppe und einer voluminös frisierten Blondhaarperücke entert sie mit energischem Schritt die Bühne des Renaissance-Theaters. In Gestalt von Sven Ratzke erzählt, singt – ach was – durchlebt! Hedwig für das Publikum förmlich noch einmal ihre bizarre, wilde wie tragische Geschichte.

Dass „Hedwig and the Angry Inch“ erst 2020 erstmals auf einer „klassischen“ Berliner Theaterbühne zu sehen ist, gehört zu den Mysterien, die man sich nicht so recht zu erklären vermag. Denn die Geschichte, die der Schauspieler und Filmemacher John Cameron Mitchell („Shortbus“) in seiner One-Wo/Man-Show erzählt, ist so eng mit der Stadt verbunden wie „Cabaret“ oder „Frau Luna“ und wäre eigentlich Pflichtprogramm fürs Berliner Repertoire.

Hedwigs Geschichte freilich ist noch ein Stück bizarrer als Paul Linckes Mondflug-Operette. Im Ost-Berlin der Vorwende-Achtziger verliebt sich Hänsel Schmidt in einen schwarzen GI, und um der DDR-Tristesse entfliehen zu können, lässt er sich zu einer Ehe überreden. Doch die notwendige geschlechtsangleichende Operation ist Murx und gleicht mehr einer misslungenen Kastration. Als in Berlin die Mauer fällt, sitzt Hedwig (vormals Hänsel) frisch geschieden, mittellos und einsam in einem Trailerpark in Kansas. Und auch von ihrer neuen Liebe wurde Hedwig benutzt. Tommy, dem sie das Musikentertainment beigebracht hatte, hat sie sitzen lassen und mit Hedwigs Songs eine Solokarriere gestartet.

Hedwigs Schöpfer John Cameron Mitchell hat einige Jahre seiner Kindheit in Berlin verbracht: Sein Vater war dort bis kurz vor dem Mauerfall US-Stadtkommandant. Die Figur und deren Geschichte hat Mitchell in den 90er Jahren in einem New Yorker Drag-Punk Club gemeinsam mit dem Musiker Stephen Trask entwickelt. Aus der Underground-Szene-Show wurde ein Off-Broadway-Erfolg. Cameron hat die Rolle viele hundert Mal selbst gespielt, 2001 sein Rockmusical auch verfilmt. Dass dem Film nach der gefeierten Berlinale-Premiere ein Kinostart in Deutschland wie auch die DVD-Veröffentlichung versagt blieb, ist wiederum ein Mysterium des Lizenzwesens. Immerhin: die deutschsprachige Erstaufführung des Bühnenstücks ließ nicht allzu lange auf sich warten, wurde 2002 im Glashaus der Arena in Berlin tief in den märkischen Sand gesetzt. Doch dann kam Sven Ratzke und sorgte für Hedwigs Rehabilitierung! Vor mittlerweile sieben Jahren ging er mit einer wüsten, energiegeladenen Version in den Keller des Admiralspalast auf Tuchfühlung mit dem Publikum: für ein paar Vorstellungen zog er später mit „Hedwig“ von den Katakomben unter den Himmel von Berlin, ins BKA-Theater.

Guntbert Warns, seit dieser Spielzeit Intendant des Renaissance-Theaters, hat Ratzkes Parforce-Ritt durch dieses queere Glamrock-Spektakel nun in sein Haus geholt und die Produktion für sein Theater eingerichtet. Vor allem aber hat sich Ratzke das Stück und die Figur mehr als zuvor zu eigen gemacht.

Wer Ratzke aus seinen eigenen Shows kennt, weiß um seine perfektionierte Kunst des Improvisierens und Dahinplauderns, dem fließenden Wechsel von poetischer Miniatur zur rotzigen Pointe. Hedwig, so will es das Stück – ist erstmals seit ihrer Übersiedlung in die USA wieder nach Berlin zurückgekehrt und wir wohnen dem ersten Konzert der „weltweit ignorierten Chanteuse“ in ihrer Heimatstadt bei. Ratzkes/Hedwigs Beobachtungen bei den ersten Erkundungen im Szenebezirk Prenzlauer Berg, ihre Erinnerungen an Berliner Paläste, ihre Spitzen zu den Corona-bedingt gelichteten Stuhlreihen fügen sich nahtlos in Mitchells Libretto. Sven Ratzke eignet sich die Figur an, kapert sie und bewahrt zugleich deren Geschichte und Charakter. Maria Schuster als Hedwigs neuem Lebensbegleiter Itzhak bleibt da freilich nur die Rolle eines Sidekicks.

Bei den rockigen Nummern fetzt und fegt Ratzke ausgelassen und doch stets diszipliniert über die Bühne. In den erzählerischen Passagen hingegen, in denen musikalisch leiseren und reduzierter instrumentalisierten Balladen wirkt Hedwig noch zerbrechlicher, ergreifender und tragischer als in der Inszenierung für den Admiralspalast. Vor allem aber wird deutlich, welches Format einige von Trasks Songs haben, etwa „Midnight Radio“ oder „Tear Me Down“. Die Band The Angry Inch – Florian Friedrich (Bass), Christopher Noodt (Keyboard), Hans Schlotter (Schlagzeug) und Jan Terstegen (Gitarre) – trägt nicht nur Ratzkes Performance. Sie illustriert auch abseits der Songs mit kleinen musikalischen Zitaten – von Nirvana über Johann Sebastian Bach bis Céline Dion – immer wieder die Erzählung. Das ikonische Pfeif-Intro von „Wind of Change“ genügt, um im Kopf des Zuschauers Bilder des Mauerfall hervorzurufen.

Hedwig also ist zurück. Und sie ist gekommen, um zu bleiben. Gespielt werden soll es solch künftig monatlich jeweils ein Wochenende lang als Mitternachts-Show, um so das Stück fest im Berliner Stadt- und Bühnenleben zu etablieren. Zeit wird es.

Nächste Vorstellungen: Renaissance-Theater

Foto: Ritter von Lehenstein

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